Arbeitskreis fahrradfreundlicher Arbeitgeber
Essen

07.09.2021

Arbeitgeber in Essen: Fahrradfreundlich und vernetzt

PIC_190114_AKB_farbig_hell-web-Kopie.jpgSeit Einführung des EU-weiten Zertifikats „Fahrradfreundlicher Arbeitgeber“ im März 2017 hat der ADFC mehr als 150 Betriebe mit knapp 200.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als fahrradfreundlich ausgezeichnet. Allein in Nordrhein-Westfalen haben sich bis Anfang September 2021 inzwischen 48 Firmen, Kommunen und Sozialorganisationen auditieren lassen – und mit dem verliehenen Siegel (in Gold, Silber oder Bronze) eine Bestätigung für engagierte Betriebliche Mobilitätsförderung erhalten. Ein Anstoß in Essen kam sicherlich auch durch die „Grüne Hauptstadt Europas 2017“. In der Stadt Essen haben sich bislang 16 zertifizierte sowie weitere Arbeitgeber zu einem eigenen Arbeitskreis zusammengeschlossen Das Ziel: Erfahrungsaustausch, gemeinsame Fahrradaktionen sowie ein konstruktiver Dialog mit Politik und Verwaltung.

Das Fahrrad als umweltfreundliches und gesundes Verkehrsmittel liegt im Trend. Für viele Berufstätige ist ein flinkes Rad oder Pedelec heute wichtiger als ein Auto, mit dem man entweder im Stau steht oder auf Parkplatzsuche ist. Moderne Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber haben diesen Wandel beim Mobilitätsverhalten frühzeitig erkannt und nutzen das fahrradfreundliche Siegel, um qualifizierte Mitarbeiter anzuziehen oder zu binden. Die Nachfrage nach dem ADFC-Zertifikat war von Anfang an hoch, ist aber in der Corona-Zeit nochmals deutlich gestiegen. Was viele Zertifizierte indes schmerzlich vermissen: eine fahrradfreundliche Infrastruktur sowie ein größeres Engagement ihrer Kommunen für aktive, emissionsfreie Mobilität.

Ein weiteres Problem ist die Sicherheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf dem Weg zur Arbeit. Deshalb fordert der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) – auch im Namen von über 150 Fahrradfreundlichen Arbeitgebern – den gezielten Ausbau der Radwegenetze, breite Radschnellverbindungen sowie mehr Fahrradparkhäuser für Pendlerinnen und Pendler an Bahnhöfen und Mobilstationen.

Europaweite Zertifizierung

Die EU-ADFC-Initiative “Fahrradfreundlicher Arbeitgeber” bietet ein strukturiertes Beratungsangebot zur Betrieblichen Mobilitätsförderung – mit dem Fahrrad im Mittelpunkt. Für das Audit und die Zertifizierung zum “Fahrradfreundlichen Arbeitgeber” gelten europaweit einheitliche Kriterien, die vom Europäischen Fahrradverband (ECF) entwickelt und in Deutschland exklusiv vom ADFC angewendet werden.

Das Branchenspektrum ist breit: Banken und Versicherungen, Kommunen, Wohnungsbaugesellschaften, Stadtwerke und Versorgungsunternehmen, Krankenhäuser, Industrie aber auch viele kleinere Hightech-Unternehmen lassen sich zertifizieren. Während zahlreiche Kommunalverwaltung das Potenzial und den Vorbildcharakter einer ganzheitlichen Mobilitätsförderung erkennen, reagiert das Handwerk noch zurückhaltend. Dabei könnte dieser Wirtschaftszweig gerade in den verstopften Innenstädten besonders vom aktuellen Lastenradtrend profitieren.

ADFC-Projektleiterin Sara Tsudome stellt fest: „Viele Unternehmen haben sich Nachhaltigkeits- und Klimaschutzziele gegeben. Da kommt man am Fahrrad eigentlich nicht vorbei. Gesunde und fitte Mitarbeiter sind ein zweites wichtiges Motiv unserer Kunden. Oft sind es auch einfach Parkplatzprobleme – und Fahrradgaragen sind deutlich günstiger als Autoparkplätze zu mieten oder weitere Flächen zu versiegeln.“ 

Fahrradfreundliches Essen?

Die Stadt Essen ist seit 1995 Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW (AGFS), die ihren jährlichen Fachkongress im Umfeld der etablierten Messe Fahrrad Essen abhält. In Essen hat sich die im Jahr 1991 vom damaligen Umweltminister Klaus Töpfer verliehene „Rostige Speiche“ in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Auch beim inzwischen alle zwei Jahre stattfindenden Fahrrad-Klimatest (FKT) des ADFC, einer regelmäßigen Zufriedenheitsbefragung zur Sicherheit und Fahrradfreundlichkeit in deutschen Städten, erreicht Essen – wie viele andere Kommunen an Rhein und Ruhr – lediglich das Prädikat „ausreichend“. Allerdings sind Verbesserungen in der Einzelbewertung bei Kriterien wie „Fahrradförderung in jüngster Zeit“, Wegweisung, Erreichbarkeit des Stadtzentrums mit dem Rad oder beim Punkt öffentliche Fahrräder („Metropolrad“) zu erkennen. Großen Nachholbedarf scheint es noch bei Ampelschaltungen für Radfahrende, Fahren im Mischverkehr oder Falschparkerkontrollen zu geben. Zwar wirft die Befragung nur ein subjektives Schlaglicht auf die Fahrradfreundlichkeit in einer Kommune. Doch Städte wie Essen haben klar erkannt, dass nicht nur Stau und Lärm inzwischen als Standortnachteil wahrgenommen werden, sondern dass gutes Fahrradklima ein Wohlfühlfaktor ist und zu einem zeitgemäßen Image beiträgt.

Während Freizeit- und Erlebnisrouten in Essen – Stichworte: Ruhrtalradweg, Bahntrassenradwege, Route der Industriekultur, Gruga oder Baldeneysee – gut ausgebaut sind, muss die Infrastruktur für ganzjährig Alltagsradfahrende noch deutlich verbessert werden. Einen Eindruck, wie das aussehen könnte, vermitteln die 14 Kilometer Rheinische Bahn, die Teil des künftigen Radschnellweg Ruhr (RS1) auf Essener Stadtgebiet sind.

Zügig, sicher, komfortabel und kommunikativ – so müssen Alltagsrouten sein. Und selbstverständlich kreuzungs- und ampelfrei, wie das gute Beispiel der Brücke am Berthold-Beitz-Boulevard inzwischen zeigt. Auch für Radpendlerinnen und -pendler spielen Reisezeit (!) und Komfort eine wichtige Rolle – sogar noch vor Distanzen und Wetter. Übrigens wichtige Kriterien für Fahrradfreundliche Arbeitgeber: barrierefreie und sichere Fahrradparkplätze mit Basiswerkzeug sowie Ladestationen für die zunehmende Zahl der Pedelecs, mit denen bequem 10 bis 15 Kilometer Arbeitsweg möglich sind. Duschen, Spinde und Trockenmöglichkeiten für Radfahrende, die zu jeder Jahreszeit vital und stressfrei unterwegs sein wollen. Und genauso wichtig: der Austausch mit anderen.

Verbände und Vernetzung

Mit der bereits 1976 gegründeten Essener Fahrrad-Initiative (EFI), einem aktiven ADFC-Kreisverband sowie nicht zuletzt dem RadEntscheid Essen (REE) ist über die Jahre eine dynamische Fahrrad- und Aktivistenszene entstanden. Vor allem der Ende 2019 als Bürger*innenbegehren gestartete Radentscheid setzt sich für eine Verbesserung der Radwege-Infrastruktur in Essen ein. Mit großer Mehrheit hat sich der Rat der Stadt Essen in seiner Sitzung am 26.08.2020 für den Beitritt zum RadEntscheid ausgesprochen. Zentrale Aspekte sind zum einen der unterbrechungsfreie und vom Fußverkehr getrennte Ausbau des Radhauptrouten- sowie Ergänzungsnetzes wie auch der Umbau von Kreuzungen. Diese Maßnahmen, die nach einem Stufenplan umgesetzt werden, sind von einem Budget im dreistelligen Millionen Euro-Bereich flankiert; zudem sollen die Planungskapazitäten verbessert und in den nächsten Jahren insgesamt rund zwei Dutzend Stellen geschaffen werden.

Auch Wirtschaft, Politik und Verwaltung haben erkannt, dass nachhaltige Mobilität in Zeiten wachsender Städte und unter den ernst zu nehmenden Vorzeichen des menschengemachten Klimawandels keine Insellösungen sein dürfen. Eine moderne, effiziente und umweltgerechte Mobilität kann nur intermodal – also vernetzt – sein, weshalb sich die Akteure und Verkehrsträger eben auch jenseits der Fahrradszene austauschen müssen. Seit März 2019 haben Wirtschaft und Stadt in Essen deshalb eine formelle Mobilitätspartnerschaft gegründet, die es nun gilt, mit Leben zu füllen. Im Rahmen der jährlichen Europäischen Mobilitätswoche wird in diesem September das Fahrrad im Mittelpunkt stehen.

Der Arbeitskreis

Vernetzt sind seit mehr als einem Jahr auch die zertifizierten “Fahrradfreundlicher Arbeitgeber” und solche, die es werden wollen, in einem selbst gegründeten Arbeitskreis. Bislang haben ausgezeichnete Arbeitgeber sich meist gegenseitig bi-lateral informiert – vor allem zu den Themen, die allen Unternehmen (und öffentlichen Arbeitgebern sowieso) auf den Nägeln brennen: das sind Fragen zum Bikeleasing, zu den Spezifikationen von Fahrradparksystemen – am besten gleich vom ADFC empfohlene bzw. zertifizierte. Denkbar sind auch Händlerkooperationen oder weitere Angebote, die Unternehmen nutzen können, wie Rahmencodierung (gegen Fahrradklau), Beratungsangebote oder ein Pedelec-Simulator.

Künftig werden koordinierte Öffentlichkeitsarbeit oder im Verbund organisierte Veranstaltungen eine größere Rolle spielen: ob gemeinsamer Newsletter, Gesundheitstag, Fahrsicherheitstrainings für Pedelecs oder Testtage für E-Bikes und Lastenräder. Ob Formate wie „Fahrrad winterfit machen“, kleine Reparaturkurse oder spezielle Infoveranstaltungen. Vieles ist möglich.

Und auch der Fahrspaß sollte nicht zu kurz kommen: Vorstellbar sind geplante Touren in der Region oder gemeinsam Teilnahme an Wettbewerben (Stadtradeln). Mit Spannung darf die geplante „Essener Energietour per Rad“ erwartet werden: Denn die Stadt ist traditionell Standort für wichtige Infrastruktur- und Dienstleitungsunternehmen aus diesem Sektor.

Schließlich bleibt die Frage nach dem Zusammenspiel mit den anderen Akteuren und Stakeholdern in der Stadtgesellschaft zu Fragen der Betrieblichen Mobilitätsförderung. Waren einige Fahrradaktivisten anfangs noch skeptisch, ist angesichts der Ernsthaftigkeit des Engagements und der phantasiereichen Umsetzung der zahlreichen Einzelmaßnahmen zu mehr Fahrradfreundlichkeit in Essen längst deutlich geworden, dass “Fahrradfreundliche Arbeitgeber” zu Verbündeten bei den Bemühungen um eine bessere Infrastruktur und höhere Aufenthaltsqualität geworden sind. Angesichts ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und der stetig steigenden Zahl Rad fahrender Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sollten deren vereinte Stimmen nicht unterschätzt werden.

Es gibt inzwischen zahlreiche Beispiele von Unternehmen in NRW, die sich pro-aktiv in die Verkehrs- und sogar Stadtplanung einbringen. Von kleinen Verbesserungen wie Bordsteinabsenkungen oder die Beschilderung über konkrete Standorte für Bikesharing bis hin zur inhaltlichen Einbindung bei der Quartiersentwicklung. Verbände und Bürgerbeteiligung sind ohnehin unerlässlich, wenn neue kommunale Mobilitätsfragen gelöst werden sollen. Hier vertritt der sehr heterogene „Arbeitskreis Fahrradfreundlicher Arbeitgeber” wahrscheinlich gezielter fahrradbezogene Interessen als das die klassischen Kammerorganisationen können – oder wollen.

Von der „Rostigen Speiche“ über die „Grüne Hauptstadt“ bis zum RadEntscheid Essen. Selbst die Fahrradverbände erkennen an, dass in der Stadt Essen ein „Aufbruch Fahrrad“ stattgefunden hat. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club wird Politik und Wirtschaft und insbesondere den “Arbeitskreis Fahrradfreundlicher Arbeitgeber in Essen” dabei gern unterstützen. Vielleicht klappt es dann mit dem großen Ziel, bis 2035 den Radverkehrsanteil in Essen auf 25 Prozent zu erhöhen.

Andreas K. Bittner (Münster) ist seit 2017 Auditor und Berater in der EU-ADFC-Initiative “Fahrradfreundlicher Arbeitgeber” 

Biking Tom - 11:41 | Kommentar hinzufügen